Hast
du schon einmal einer anderen Person wirklich tief zugehört? Tief
zuhören bedeutet, dass wir wirklich nur zuhören, während die
andere Person spricht. Wir hören zu, ohne jegliches Vorurteil. Wir
beurteilen nichts von dem, was die andere Person sagt. Wenn du die
Fähigkeit hast, auf diese Weise zuzuhören, dann wirst du entdecken,
dass du sogar die Dinge verstehen kannst, die die andere Person gar
nicht ausspricht.
Meiner
Erfahrung nach ist diese Art des Zuhörens eine Methode, mit der wir
echte Kommunikation mit einer anderen Person herstellen können und
eine liebevolle Verbindung aufbauen können. Jeder von uns wünscht
sich, dass sein Gesagtes Gehör findet und Wertschätzung erfährt.
Doch wenn wir uns dies von anderen wünschen, warum schenken wir
ihnen dann umgekehrt kein Gehör und hören nicht wirklich aufmerksam
zu?
Das
Leben verläuft nicht immer reibungslos und jeder von uns begegnet
von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten und Hindernissen. Manchmal stehen
wir im Leben unglücklichen Ereignissen gegenüber. In solchen
Situationen brauchen wir Freunde, die die Fähigkeit haben,
zuzuhören. Wir wollen zu ihnen gehen und sie um Ratschläge bitten.
Wir erzählen ihnen all die Dinge, die uns im Moment Schwierigkeiten
bereiten und die unser Herz in Verwirrung bringen.
Nehmen
wir an, der Freund gibt uns überhaupt keine Ratschläge, sondern er
ist einfach für uns da, mit seiner vollen Präsenz. Er hört
aufrichtig und liebevoll zu, während wir sprechen. Er schaut uns mit
liebevollen Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen ins
Gesicht. Allein dadurch wird sich ein Großteil unseres Leidens
bereits auflösen. Aus dieser Erfahrung heraus wissen wir, dass wir
selbst das Leiden einer anderen Person lindern können, indem wir
einfach nur zuhören, mit unserer vollen Aufmerksamkeit und Präsenz.
Vielleicht liegt es an diesem großen Wert des tiefen Zuhörens, dass
der Schöpfer uns Menschen zwei Ohren und nur einen Mund gegeben hat.
Während
wir zuhören, was die andere Person sagt, hören wir gleichzeitig
auch noch die Stimme in unserem eigenen Kopf, die ständig leise vor
sich hin flüstert. Der anderen Person zuzuhören und gleichzeitig
uns selbst zuzuhören gibt uns die Gelegenheit, unsere Fähigkeit zur
Einsicht zu entwickeln und das Tor zur Liebe zu öffnen. Denn wenn
wir auf diese Weise zuhören, haben wir die Gelegenheit, uns selbst
und die andere Person besser zu verstehen. Durch Verstehen entwickeln
wir Weisheit, und Weisheit ist die Grundlage der Liebe. Je tiefer wir
die andere Person verstehen, desto stärker werden wir sie lieben.
Wir lieben dann nicht nur ihre positiven Eigenschaften und Talente,
sonder auch ihre Schwächen und Schwierigkeiten.
Wenn
eine Person für ihre Mitmenschen Schwierigkeiten verursacht, dann
möchte sie das in Wirklichkeit wahrscheinlich gar nicht. Es gibt
einfach so viele ungelöste Missverständnisse zwischen den beiden
Personen, oder die Person
hat in ihrer Kindheit viel gelitten, oder sie verfügt seit längerer
Zeit über viel Macht und Geld und hat dadurch die Gewohnheit
entwickelt, zu denken, dass alle anderen Leute ihr gehorchen müssen
und tun müssen, was immer sie sagt.
Egal,
wie viel Macht oder Geld wir besitzen, werden wir nicht den Sinn des
Lebens verwirklichen können, solange wir uns selbst nicht kennen und
nicht wissen, wie wir mit unseren Emotionen umgehen können. Wir
müssen verstehen, dass wir nur Schauspieler auf der Bühne des
Lebens sind, und dass unser wahrer Verdienst in den drei Arten von
Karma liegt (Karma des Denkens, des Sprechens und des Handelns), die
wir jeden Tag erzeugen.
Wenn
wir Liebe geben, werden wir Liebe empfangen. Das tiefe Zuhören ist
eine der aufrichtigsten Formen, mit denen wir unsere Liebe zum
Ausdruck bringen können. Wenn wir so praktizieren können, dann
handeln wir so wie die berühmte Bodhisattva des Mitgefühls
„Avalokiteshvara“.
Hommage
an Avalokiteshvara
„Wir
rufen deinen Namen an, Avalokiteshvara. Wir geloben, deine Art des
Zuhörens zu erlernen, um das Leiden in der Welt zu lindern. Du
weißt, wie du zuhören kannst, um zu verstehen. Wir rufen deinen
Namen an, um zu praktizieren, mit unserer ganzen Aufmerksamkeit und
Offenherzigkeit zuzuhören. Wir werden sitzen und zuhören ohne
jegliches Vorurteil. Wir werden sitzen und zuhören ohne zu urteilen
oder zu reagieren. Wir werden sitzen und zuhören, um zu verstehen.
Wir werden so aufmerksam zuhören, dass wir verstehen, was die andere
Person sagt und auch das, was ungesagt bleibt. Wir wissen, dass wir
nur durch das tiefe Zuhören bereits einen Großteil der Schmerzen
und des Leidens in der anderen Person lindern können.“
- Thay Phap Nhat
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