Thay Phap Nhat
In unserem täglichen Leben passieren
manchmal Dinge, deren wir uns nicht bewusst sind. Manchmal fühlen
wir uns traurig, obwohl wir keinen Grund für unsere Traurigkeit
entdecken können. Wir wissen nicht, warum wir uns traurig fühlen.
Manchmal fühlen wir uns einsam, obwohl ganz viele Menschen um uns
herum sind. Wenn wir den Grund hinter diesen Gefühlen nicht kennen,
dann werden sie immer wieder aufkommen. Die Meditationspraxis ist
einen Art Reise, eine Reise nach innen. Wir kommen zurück zu uns
selbst und entdecken, wer wir wirklich sind.
Manchmal werde ich gefragt: „Was ist
der gegenwärtige Moment?“ Tatsächlich gibt es in der Realität
gar keinen gegenwärtigen Moment. Warum gibt es keine Gegenwart, kein
Jetzt? Wir müssen tief schauen in unsere Vorstellungen von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um diese Frage beantworten zu
können. Die Vergangenheit ist bereits vergangen, sie ist nicht mehr
da. Die Vergangenheit existiert nicht wirklich. Die Zukunft ist noch
nicht gekommen, also ist auch sie nicht wahrhaftig da. Aus dieser
Betrachtung schließen wir normalerweise, dass es in der Wirklichkeit
nur das Jetzt gibt. Das Jetzt ist aber aus der Vergangenheit und der
Zukunft gemacht. Wenn es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt,
wie kann da ein Jetzt sein?
Es gibt eine Dimension, die über die
Zeit hinausgeht. Da in dieser Dimension keine Zeit ist, ist dort auch
kein Raum; sie geht über Zeit und Raum hinaus. Denn der Raum ist aus
der Zeit gemacht, und die Zeit ist aus dem Raum gemacht. Diese
Dimension können wir nicht mit dem Mitteln unserer Sprache erklären.
Wir leihen ein Wort aus unserer Sprache aus, und nennen diese
Dimension das „Jetzt“. Aber sobald ich „Jetzt“ sage, gehört
dieser Moment bereits der Vergangenheit an. Wenn wir in dieser
Dimension leben können, die über Raum und Zeit hinausgeht, dann
sind wir unsterblich. In dieser Dimension gibt es keine Geburt und
keinen Tod. Wenn wir in dieser Dimension leben, wird unsere Welt zum
Königreich Gottes, zum Reinen Land des Buddha. Ein Baum, eine Blume,
ein singender Vogel: All diese Dinge werden zu etwas Zauberhaftem, zu
etwas Wunderbarem. Es gibt ein Geheimnis: Wenn wir viele
Schwierigkeiten und viele Sorgen haben, wenn wir uns gestresst
fühlen, dann dürfen wir nicht vergessen, dem Gesang der Vögel
zuzuhören. Ich höre stets den Vögeln zu. Auch während ich einen
Dharma-Vortrag gebe, verpasse ich nie die Dinge, die um mich herum
passieren. Ich höre den Vögeln zu. Das ist das Leben. Das Leben ist
das Ganze. Meditation ist das Leben. Wenn wir meditieren, werden wir
zu dem Ganzen. Dann werden wir allmählich durch die Tür treten in
die Dimension außerhalb von Zeit und Raum. Dann werden wir erkennen,
wer wir wirklich sind. In dieser Dimension gibt es nicht viele Dinge,
über die man sich sorgen könnte. Denn unsere Sorgen befinden sich
eigentlich nur in unserem Kopf. Aber die Realität befindet sich in
unserem Herzen.
Unser Körper befindet sich immer im
Hier und Jetzt, während unser Geist umherwandert. Wenn wir unsere
Hand auf unser Herz legen, dann können wir seiner Stimme zuhören.
Wir spüren das Schlagen unseres Herzens, das uns sagt: „Hier,
Jetzt, Hier, Jetzt...“ Das Herz schlägt beständig, ohne Pause. Es
ist immer hier und jetzt. Manchmal denken wir, dass unser Kopf
intelligenter ist als unser Herz. Stellen wir uns einmal vor, ich
würde ausschließlich die Intelligenz meines Kopfes benutzen, um
eine Glocke hochzuheben. Mein Kopf würde das Gewicht der Glocke
messen und ausrechnen, wieviel Kraft meine Hand aufwenden muss um die
Glocke hochzuheben. Unser Kopf funktioniert auf diese Weise. Die
Intelligenz unseres Körpers aber ist ein Wunder. Wenn wir die Glocke
in die Hand nehmen, wissen wir sofort wieviel Kraft wir benötigen um
sie hochzuheben, ohne dass wir dafür unseren Kopf benutzen müssen.
Diese Intelligenz funktioniert nicht durch unseren Geist, sondern
durch direkte Erfahrung. Je tiefer wir in unserer Meditation gehen,
desto mehr solcher direkten Erfahrungen werden wir erleben. Je mehr
wir die Welt direkt erleben können, desto freier sind wir. Wir sind
frei von unseren Emotionen, von unseren Geistesformationen, von
unseren falschen Wahrnehmungen.
In unserem täglichen Leben handeln wir
oft auf der Grundlage falscher Wahrnehmungen. Wir haben falsche
Wahrnehmungen über uns selbst und über die Menschen, mit denen wir
zusammen leben. Häufig glauben wir, dass wir uns selbst verstehen,
und dass wir die Menschen in unserem Umfeld gut kennen. Aber jeder
von uns ist wie ein Universum, indem es viele Dinge gibt, die wir
noch entdecken müssen. Unser Körper ist wie ein kleines Universum,
dass die Dinge aus dem großen Universum widerspiegelt. Auf der Erde
gibt es viele kleine Bäche und Flüsse, die alle irgendwann in das
Meer fließen. In unserer Hand können wir kleine Venen entdecken, in
unserem Arm sind größere Venen, und alle Venen sind mit dem Herzen
verbunden. Unser Herz ist wie der Ozean, in dem sich das Wasser aus
den Flüssen sammelt. Es ist wirklich erstaunlich. Normalerweise
denken wir, dass in unserem Körper nur eine Person lebt, nämlich
wir. Tatsächlich leben dort aber noch Millionen kleiner Lebewesen
und Bakterien, die alle in diesem Körper nebeneinander existieren.
Die Bakterien sind im Verhältnis zu unserem Körper etwa so klein
wie wir selbst im Verhältnis zur Erde. Die Bakterien haben ihr
eigenes Leben, vielleicht leben sie auch in Familien. Auch sie werden
geboren und werden eines Tages sterben. Die Bakterien leben nur für
kurze Zeit, wenn man sie mit unserer eigenen Lebenszeit vergleicht.
Eine Sekunde fühlt sich für sie an wie ein Tag. Auch wir leben nur
kurz, wenn wir unser Leben mit dem eines Sterns vergleichen. Wir alle
können selber solche Entdeckungen machen, wenn wir unseren Körper
aufmerksam beobachten. Allmählich entwickeln wir ein Gespür dafür,
wer wir wirklich sind. Wir sind nichts.
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