Montag, 28. März 2016

Leben in der letztendlichen Dimension - aus dem Dharma-Vortrag vom 7. Februar in HH



Thay Phap Nhat


In unserem täglichen Leben passieren manchmal Dinge, deren wir uns nicht bewusst sind. Manchmal fühlen wir uns traurig, obwohl wir keinen Grund für unsere Traurigkeit entdecken können. Wir wissen nicht, warum wir uns traurig fühlen. Manchmal fühlen wir uns einsam, obwohl ganz viele Menschen um uns herum sind. Wenn wir den Grund hinter diesen Gefühlen nicht kennen, dann werden sie immer wieder aufkommen. Die Meditationspraxis ist einen Art Reise, eine Reise nach innen. Wir kommen zurück zu uns selbst und entdecken, wer wir wirklich sind.

Manchmal werde ich gefragt: „Was ist der gegenwärtige Moment?“ Tatsächlich gibt es in der Realität gar keinen gegenwärtigen Moment. Warum gibt es keine Gegenwart, kein Jetzt? Wir müssen tief schauen in unsere Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um diese Frage beantworten zu können. Die Vergangenheit ist bereits vergangen, sie ist nicht mehr da. Die Vergangenheit existiert nicht wirklich. Die Zukunft ist noch nicht gekommen, also ist auch sie nicht wahrhaftig da. Aus dieser Betrachtung schließen wir normalerweise, dass es in der Wirklichkeit nur das Jetzt gibt. Das Jetzt ist aber aus der Vergangenheit und der Zukunft gemacht. Wenn es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, wie kann da ein Jetzt sein?


Es gibt eine Dimension, die über die Zeit hinausgeht. Da in dieser Dimension keine Zeit ist, ist dort auch kein Raum; sie geht über Zeit und Raum hinaus. Denn der Raum ist aus der Zeit gemacht, und die Zeit ist aus dem Raum gemacht. Diese Dimension können wir nicht mit dem Mitteln unserer Sprache erklären. Wir leihen ein Wort aus unserer Sprache aus, und nennen diese Dimension das „Jetzt“. Aber sobald ich „Jetzt“ sage, gehört dieser Moment bereits der Vergangenheit an. Wenn wir in dieser Dimension leben können, die über Raum und Zeit hinausgeht, dann sind wir unsterblich. In dieser Dimension gibt es keine Geburt und keinen Tod. Wenn wir in dieser Dimension leben, wird unsere Welt zum Königreich Gottes, zum Reinen Land des Buddha. Ein Baum, eine Blume, ein singender Vogel: All diese Dinge werden zu etwas Zauberhaftem, zu etwas Wunderbarem. Es gibt ein Geheimnis: Wenn wir viele Schwierigkeiten und viele Sorgen haben, wenn wir uns gestresst fühlen, dann dürfen wir nicht vergessen, dem Gesang der Vögel zuzuhören. Ich höre stets den Vögeln zu. Auch während ich einen Dharma-Vortrag gebe, verpasse ich nie die Dinge, die um mich herum passieren. Ich höre den Vögeln zu. Das ist das Leben. Das Leben ist das Ganze. Meditation ist das Leben. Wenn wir meditieren, werden wir zu dem Ganzen. Dann werden wir allmählich durch die Tür treten in die Dimension außerhalb von Zeit und Raum. Dann werden wir erkennen, wer wir wirklich sind. In dieser Dimension gibt es nicht viele Dinge, über die man sich sorgen könnte. Denn unsere Sorgen befinden sich eigentlich nur in unserem Kopf. Aber die Realität befindet sich in unserem Herzen.

Unser Körper befindet sich immer im Hier und Jetzt, während unser Geist umherwandert. Wenn wir unsere Hand auf unser Herz legen, dann können wir seiner Stimme zuhören. Wir spüren das Schlagen unseres Herzens, das uns sagt: „Hier, Jetzt, Hier, Jetzt...“ Das Herz schlägt beständig, ohne Pause. Es ist immer hier und jetzt. Manchmal denken wir, dass unser Kopf intelligenter ist als unser Herz. Stellen wir uns einmal vor, ich würde ausschließlich die Intelligenz meines Kopfes benutzen, um eine Glocke hochzuheben. Mein Kopf würde das Gewicht der Glocke messen und ausrechnen, wieviel Kraft meine Hand aufwenden muss um die Glocke hochzuheben. Unser Kopf funktioniert auf diese Weise. Die Intelligenz unseres Körpers aber ist ein Wunder. Wenn wir die Glocke in die Hand nehmen, wissen wir sofort wieviel Kraft wir benötigen um sie hochzuheben, ohne dass wir dafür unseren Kopf benutzen müssen. Diese Intelligenz funktioniert nicht durch unseren Geist, sondern durch direkte Erfahrung. Je tiefer wir in unserer Meditation gehen, desto mehr solcher direkten Erfahrungen werden wir erleben. Je mehr wir die Welt direkt erleben können, desto freier sind wir. Wir sind frei von unseren Emotionen, von unseren Geistesformationen, von unseren falschen Wahrnehmungen.

In unserem täglichen Leben handeln wir oft auf der Grundlage falscher Wahrnehmungen. Wir haben falsche Wahrnehmungen über uns selbst und über die Menschen, mit denen wir zusammen leben. Häufig glauben wir, dass wir uns selbst verstehen, und dass wir die Menschen in unserem Umfeld gut kennen. Aber jeder von uns ist wie ein Universum, indem es viele Dinge gibt, die wir noch entdecken müssen. Unser Körper ist wie ein kleines Universum, dass die Dinge aus dem großen Universum widerspiegelt. Auf der Erde gibt es viele kleine Bäche und Flüsse, die alle irgendwann in das Meer fließen. In unserer Hand können wir kleine Venen entdecken, in unserem Arm sind größere Venen, und alle Venen sind mit dem Herzen verbunden. Unser Herz ist wie der Ozean, in dem sich das Wasser aus den Flüssen sammelt. Es ist wirklich erstaunlich. Normalerweise denken wir, dass in unserem Körper nur eine Person lebt, nämlich wir. Tatsächlich leben dort aber noch Millionen kleiner Lebewesen und Bakterien, die alle in diesem Körper nebeneinander existieren. Die Bakterien sind im Verhältnis zu unserem Körper etwa so klein wie wir selbst im Verhältnis zur Erde. Die Bakterien haben ihr eigenes Leben, vielleicht leben sie auch in Familien. Auch sie werden geboren und werden eines Tages sterben. Die Bakterien leben nur für kurze Zeit, wenn man sie mit unserer eigenen Lebenszeit vergleicht. Eine Sekunde fühlt sich für sie an wie ein Tag. Auch wir leben nur kurz, wenn wir unser Leben mit dem eines Sterns vergleichen. Wir alle können selber solche Entdeckungen machen, wenn wir unseren Körper aufmerksam beobachten. Allmählich entwickeln wir ein Gespür dafür, wer wir wirklich sind. Wir sind nichts. 

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