Frage: Wie kann ich friedvoll sein, wenn ich einer Person gegenüberstehe, die wütend auf mich ist und mich verletzen möchte?
Antwort: Stell dir einen Brunnen vor, aus dem
du mit einer Schöpfkelle Wasser entnehmen willst. Wenn in dem
Brunnen aber kein Wasser ist, dann kannst du auch keines herausholen.
Wenn in unserem Herzen keine Energie der Wut ist, und jemand sagt
etwas Unfreundliches zu uns, können wir dann wütend werden? Mit der
Energie der Wut verhält es sich genauso wie mit dem Wasser im
Brunnen. Die andere Person ist nur eine Art Trigger für die Energie
der Wut, die bereits in uns ist.
Wir können aber doch etwas tun, wenn
eine andere Person unseren Ärger aufweckt. In der buddhistischen
Psychologie sprechen wir von Samen, die in unserem
Speicherbewusstsein ruhen. Es gibt dort ganz viele verschiedene
Samen. Jeder von uns hat die Samen der Liebe, des Mitgefühls, des
Glücks und der Freude. Es gibt in unserem Speicherbewusstsein aber
auch die Samen der Traurigkeit, der Wut, der Frustration und der
Angst. Wenn wir wissen, wie wir in unserem täglichen Leben die Samen
des Glücks und der Freude nähren können, dann werden diese Samen
zu großen und starken Bäumen heranwachsen. Wenn wir hingegen die
Samen der Frustration, der Wut und der Sorge wässern, dann werden
genau diese Samen stärker werden und weiter wachsen. Wenn wir dies
klar erkennen, dann können wir zum Wässern die Samen auswählen,
die uns glücklich machen.
Alle Personen in unserem Umfeld sind
wie ein Spiegel, die reflektieren, was wir in unserem Inneren haben.
Wir haben das Recht zu entscheiden, mit welcher Haltung wir einer
Situation begegnen wollen. Wenn wir in unserer Praxis noch nicht so
stark sind, dann brauchen wir eine Gemeinschaft; wir brauchen
Freunde, die nur die guten Samen in unserem Herzen nähren. Wenn wir
stärker geworden sind, haben wir genügend innere Ruhe, um mit
schwierigen Situationen umzugehen.
F: Du sagst, es ist nicht
möglich im gegenwärtigen Moment zu leiden. Ich verstehe, dass ein
Großteil unseres Leidens aus der Vergangenheit kommt. Ich erlebe
aber auch oft ein starkes Glücksgefühl, wenn ich mich an glückliche
Situationen aus der Vergangenheit erinnere. Ist dieses Glück dann
ebenso wenig real?
A: Wir erinnern uns an eine
glückliche Situation aus der Vergangenheit und fühlen uns
glücklich. Dann denken wir, dass dieses Glück aus der Vergangenheit
kommt. Tatsächlich findet doch aber dieses Gefühl des Glücks im
gegenwärtigen Moment statt. Mit dem Leiden ist es genauso. Wenn wir
uns mit diesen Emotionen identifizieren, dann verlieren wir uns
selbst. Dann können wir nicht mehr im Hier und Jetzt sein. Damit wir
uns selbst nicht verlieren, müssen wir die Energie der Achtsamkeit
und der Bewusstheit entwickeln. Dann erkennen wir klar, was immer in
uns passiert, ohne selbst zu verlieren. Wir identifizieren uns nicht
mit unserer Emotion, unserer Traurigkeit oder unserer Wut. Je mehr
wir zu einem Beobachter werden, desto größer wird die Lücke
zwischen uns und der Situation. So entwickeln wir die Fähigkeit
selbst zu entscheiden, mit welcher Haltung wir in der Situation
handeln wollen.
F: Ist der gegenwärtige Moment
frei von Emotionen? Ist da keine Emotionalität in dem, was im
gegenwärtigen Moment geschieht?
A: Da ist keine Trennung
zwischen der absoluten und der relativen Ebene. Der gegenwärtige
Moment schließt die auftauchenden Emotionen mit ein. Wir können im
gegenwärtigen Moment beobachten, wie eine starke Emotion aufkommt.
Wir wissen, dass sie da ist, und davon verschwindet sie nicht. Weiter
können wir beobachten, dass wir aufgrund dieser starken Emotion
etwas sagen wollen. In manchen Fällen können wir uns beruhigen und
sehen davon ab, etwas zu sagen. Auch dies können wir beobachten. Im
gegenwärtigen Moment sind immer der Körper, der Geist und die
Umwelt. Eine in uns aufkommende Emotion gehört zum Bereich des
Geistes. Während sie aufsteigt, können wir zur gleichen Zeit auch
unseren Körper beobachten. Wenn z. B. Ärger in uns aufkommt, dann
bemerken wir wie unser Gesicht rot wird, wie unser Herz schneller
schlägt, und wie unser Atem kürzer wird. Indem wir dies beobachten,
wird sich unser Körper wieder beruhigen. Je mehr wir unsere
Emotionen beobachten, desto mehr Erfahrungen sammeln wir im Umgang
mit ihnen, und desto besser können wir sie verstehen. Wenn wir
unsere Emotion bereits gut kennen, dann wird sie zwar immer noch
auftauchen, aber sie wird nicht mehr so stark sein wie zuvor. Noch
etwas später erkennen wir dann z. B.: „Wenn ich weiterhin mit
dieser Person spreche, dann wird die Emotion wieder aufkommen.“
Aufgrund dieser Erkenntnis werden wir uns rechtzeitig aus der
Konversation zurückziehen. Auf diese Weise können wir unsere innere
Frische aufrechterhalten. In dieser Praxis des tiefen Schauens
brauchen wir Übung. Je mehr wir unsere Emotionen beobachten, desto
tiefer können wir sie verstehen. Ich spreche hier nicht nur von der
Wut, sondern von allen Arten von Emotionen. Auch die Situationen in
unserem Leben können wir immer tiefer verstehen, und dadurch haben
wir die Möglichkeit die Richtung für unser Leben selbst zu
bestimmen. Unser Geist ist wie ein CD-Player. Wenn in unserem
CD-Player eine Musik gespielt wird, die wir nicht mögen, warum
wechseln wir dann nicht einfach die CD?
F: Es ist einfach, eine CD zu
wechseln oder eine andere Tür zu wählen, aber es ist nicht einfach
deine Kinder oder deine Ehefrau zu ändern. Wie können wir unserer
Verantwortung unserer Familie gegenüber gerecht werden?
A: Wir können die Situation
nicht ändern. Wir können unsere Kinder, unseren Ehemann oder unsere
Ehefrau nicht ändern. Aber wir können unsere Haltung der Situation
gegenüber ändern. Wir können diese Personen auf eine neue Weise
betrachten.
In Vietnam gibt es zwei Jahreszeiten,
nämlich Sonnenzeit und Regenzeit. Es gibt eine Geschichte von einer
alten Frau, die zwei Töchter hat. Eine Tochter verkauft Schuhe, die
andere Tochter verkauft Regenschirme. Die alte Frau weint während
des ganzen Jahres. Andere Leute fragen sie, warum sie denn soviel
weine, sowohl während der Sonnenzeit als auch während der
Regenzeit. Sie erklärt: „Ich habe zwei Töchter. Eine verkauft
Schuhe und die andere verkauft Regenschirme. In der Regenzeit kann
meine Tochter, die die Schuhe verkauft, nichts verkaufen. Ich habe
soviel Mitleid mit ihr, dass ich die ganze Zeit weinen muss. Und in
der Sonnenzeit kann meine andere Tochter keine Regenschirme
verkaufen. Ich liebe sie sehr und sie tut mir sehr leid, deshalb
weine ich auch während der Sonnenzeit.“ Eines Tages kommt ein
Zen-Meister an ihrem Wohnort vorbei und davon gehört, dass die alte
Frau das ganze Jahr über weint. Er kommt zu ihr und fragt, warum sie
so viel weine. Sie antwortet mit der selben Begründung. Der
Zen-Meister schlägt ihr eine andere Denkweise vor: „In der
Sonnenzeit kann deine Tochter, die die Schuhe verkauft, ganz viele
Schuhe verkaufen. Dann kannst du viel an diese Tochter denken und mit
ihr glücklich sein. In der Regenzeit kann deine andere Tochter ganz
viele Regenschirme verkaufen. Dann kannst du dich mit ihr freuen.“
Seitdem lächelt die alte Frau das ganze Jahr.
Ich möchte mit dieser Geschichte
deutlich machen, dass unsere Haltung sehr wichtig ist. Häufig wollen
wir die Menschen in unserem Umfeld ändern; das ist eine Tendenz des
menschlichen Geistes. Das ist normal, und es ist nichts Falsches
daran. Wir können aber stattdessen das Entgegengesetzte tun: In
jedem Menschen gibt es etwas Schönes zu entdecken. In den Menschen
um uns herum sollten wir besonders diese schönen Dinge betrachten.
Wir akzeptieren die Menschen und die Situationen so, wie sie sind.
Dann wird sich in einem Moment plötzlich eine neue Tür öffnen.
Viele Familien leben jahrelang zusammen, ohne eine Gelegenheit zu
haben zusammenzusitzen und sich gegenseitig zu sagen, was sie
aneinander schätzen. Es ist eine gute Idee, einen Familientag
einzurichten. An diesem Tag kochen und essen wir gemeinsam, und
danach erhält jede Person die Gelegenheit den anderen
Familienmitgliedern zu sagen, welche guten und schönen Eigenschaften
sie in ihnen sieht. Diese Praxis nennen wir „Blumen wässern“,
denn unsere guten Eigenschaften sind wie Blumen, die Wasser brauchen
damit sie gut wachsen können. Wir werden überrascht sein, wie viel
wir durch diese Praxis lernen können. Wir können viele Dinge in
unseren geliebten Menschen entdecken, die wir bisher gar nicht
bewusst betrachtet haben, und wir haben die Gelegenheit zu erfahren,
was die anderen Familienmitglieder in uns selber sehen. Es ist auch
möglich, einen Brief zu schreiben. Wir schreiben all die schönen
Dinge auf, die wir in der Person sehen, die wir lieben. Solch einen
Brief ist wahrhaftig ein Liebesbrief. Die andere Person wird
überrascht sein zu sehen, dass wir so viele guten Eigenschaften in
ihnen entdeckt haben. Vielleicht hat unsere Tochter oder unser Sohn
vorher den Eindruck gehabt, dass wir sie nicht wirklich lieben. Es
können viele falsche Wahrnehmungen auftauchen in einer
Eltern-Kind-Beziehung, und diese falschen Wahrnehmungen können durch
die Praxis des Blumen-Wässerns entfernt werden. Auf diese Weise
haben wir die Chance, in der Beziehung zu unseren Geliebten neu zu
beginnen. Diese Art der Praxis kann in der Familie angewandt werden,
aber auch in der Schule oder am Arbeitsplatz. Der Mensch ist eine Art
soziales Tier; er muss mit anderen Menschen zusammen leben. Nur ganz
wenige Menschen leben als Mönch allein in einer Höhle im Himalaya,
um dort Meditation zu praktizieren. Wenn wir glückliche Beziehungen
zu unseren Mitmenschen haben, dann werden wir ein glückliches Leben
haben. Eine glückliche Beziehung ist etwas, das wir aufbauen und
kultivieren können. Es ist sehr gut, wenn wir eine Sangha aufbauen
können, eine Praxis-Gemeinschaft mit anderen Menschen. Wir laden
Menschen ein, die in dieselbe Richtung gehen wollen, die gerne Geh-
und Sitzmeditation miteinander praktizieren wollen. In der Sangha
teilen wir positive Dinge miteinander und wässern uns gegenseitig
die guten Samen in unserem Bewusstsein. Dadurch wird unser Leben sich
verändern. Es ist wichtig, dass wir eine glückliche Atmosphäre in
unserem Umfeld schaffen. Dafür brauchen wir Verstehen und Liebe,
denn ohne Verstehen gibt es keine Liebe.
F: Ich verstehe, dass die
Ursache des Leidens in unserem Geist liegt und in unserer Haltung im
Leben. Daran müssen wir arbeiten. Aber manchmal müssen wir
Entscheidungen treffen, es gibt Umstände in unserem Leben die wir
ändern können. Wie weiß ich, wann ich eine Situation ändern
sollte, wann sollte ich mich dazu entscheiden? Oder ist es immer
richtig, sich nur um den Geist zu kümmern und alle äußeren
Umstände so zu belassen, wie sie sind? Ich habe das Gefühl, dass
man manchmal seine Lebenssituation ändern sollte, z. B. den
Arbeitsplatz wechseln o. Ä.
A: Wir denken, dass wir unsere
Nahrung nur über das Essen zu uns nehmen. Doch unsere Nahrung
besteht nicht nur aus dem Essen. Wir nehmen auch zu uns, was wir
hören, was wir sehen. Auch die Umgebung um uns herum ist eine Art
Nahrung für uns. Manchmal müssen wir in unserem Leben eine
Entscheidung treffen. Wenn es für dich an der Zeit ist, dann triff
die Entscheidung einfach. Denn wenn wir die Entscheidung nicht
treffen, dann werden wir trotzdem noch daran denken, und dadurch wird
unser Geist viele Geschichten und Konflikte kreieren. Wir können die
Entscheidung einfach treffen. Wenn es eine gute Entscheidung war,
dann werden wir dies später bemerken. Wenn wir feststellen, dass die
Entscheidung nicht gut war, dann treffen wir einfach eine neue
Entscheidung.
Allerdings gibt es ein grundlegendes
Kriterium, das wir als Entscheidungshilfe nutzen können. Wir wählen
eine Entscheidung, die uns selbst und unseren Mitmenschen keinen
Schaden zufügt. Wenn die Entscheidung diese Kriterien erfüllt, dann
wird es eine gute Entscheidung sein. Tatsächlich treffen wir in
unserem täglichen Leben ständig Entscheidungen, ohne uns dessen
bewusst zu sein. Wenn wir morgens aufwachen und beide Füße auf den
Boden setzen, dann entscheiden wir, mit welchem Fuß wir zuerst
losgehen. Beim Essen entscheiden wir, welche der Speisen auf unserem
Teller wir zuerst zu uns nehmen. Diese kleinen Entscheidungen treffen
wir nebenbei, sie passieren einfach. Wenn wir aber tief schauen, dann
können wir erkennen, dass hinter all diesen kleinen Entscheidungen
ein Grund liegt. Durch Beobachten dieser kleinen Entscheidungen
können wir lernen, dass es gut funktioniert wenn man Entscheidungen
spontan trifft, denn all diese kleinen Entscheidungen werden ja
spontan, ohne großes Abwägen, gefällt. Wir leben in einem
Abenteuer.
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